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Siebzig Grad Nord

Abenteuer entstehen meist durch den Versuch, eine außergewöhnliche Idee in die Tat umzusetzen. Der Auslöser zu dieser Geschichte war ein Treffen mit Graham Austick, dem Betreiber der Lyngen Lodge am obersten Ende Norwegens. Graham erzählte mir von atemberaubender Landschaft und Unmengen an Eis in den Lyngen-Alpen. Ich buchte sofort die Flüge nach Tromsö. Als Abschluss einer perfekten Eissaison wollten Benedikt Purner und ich noch einmal die Eisgeräte zum glühen bringen. Um die Stimmungen und Kletteraktionen möglichst perfekt wiedergeben zu können begleiteten uns Fotograf Klaus Kranebitter und Filmemacher Hannes Mair.

Temperaturen weit jenseits der Frostgrenze

Bereits bei unserer Ankunft in Tromsö erwartet uns der eisige Norden mit Temperaturen weit jenseits der Frostgrenze. Wir fahren an unzähligen, direkt neben der Strasse gelegenen Eisgebilden vorbei. Allein an diesen Formationen könnte man sich wochenlang austoben. Immer wieder spähen wir mit dem Fernglas auf etwas weiter entfernte Eisfälle. Beruhigt treffen wir Torbjörn, den Besitzer einer Fischerlodge, an der wir unsere Zeit in Lyngen verbringen werden. Seiner Mentalität entsprechend zeigt uns Torbjörn unser Haus, mit wenigen Worten ist alles erklärt. Unsere Unterkunft liegt etwa fünfzig Meter vom Strand des Lyngenfjords entfernt, umgeben von den eindrucksvollen Gipfeln der Lyngen-Alpen. Das Haus am Strand ist nach allen Wünschen ausgestattet, sogar eine Sauna steht für uns bereit. Wir leben uns in der stimmungsvollen und weit abgelegenen Gegend schnell ein. Stress scheint hier nicht zu existieren. Alles läuft ruhig und stetig.

Abenteuer in der Wildnis

Die ersten Tage verlaufen intensiv und beeindruckend. Hannes und Klaus sind schwer beschäftigt, die vielen Eindrücke festzuhalten, bevor die Nordlichter pünktlich um 23 Uhr den Arbeitsstress noch einmal auf einen Höhepunkt bringen. Bei konstanten Temperaturen zwischen -8°C und -22°C und extrem sprödem Eis gestaltet sich die Kletterei fordernd. Dazu kommen die ermüdenden Zustiege, mit Schneeschuhen sind wir meist ein bis zwei Stunden zu den Einstiegen unterwegs. Außer den Bildern von Graham können wir kaum Informationen über die Eisfälle am Lyngenfjord finden. Das Abenteuer in der absoluten Wildnis steht hier im Vordergrund. Ob es sich dabei um eine Erstbegehung handelt, ist schwierig herauszufinden. Bei den von uns gekletterten Routen haben wir keine einzige Begehungsspur gefunden und daher haben wir alle Routen mit Namen und Bewertung versehen. Bei Nordkjosboten beginnen wir gemächlich, bei -22°C sind wir mit den 60 Metern des „Startfossen“ WI4 genug gefordert. Die 130 Meter von „Gullyvers Reisen“ WI5 am zweiten Tag sind ein wahrer Genuss. Am nächsten Tag geht es recht früh mit der Fähre über den Fjord nach Lyngseidet. Dort warten zwei Linen, die schon von mehreren Kilometern Entfernung als blaugrün, golden schimmernde Eisspuren sichtbar sind. „Goldrush“ 200m, WI5+ und „Rapunzel“ 230m, WI5 bieten luftiges Ambiente hoch über dem Fjord mit Panoramagarantie. Mitten im Schneesturm klettern wir einen Tag später im Spesiell Canyon die dünne und steile „Manner mag man eben“ 120m, M6/WI5+. Bei -19°C ist die Entscheidung für einen Rasttag am nächsten Tag leicht gefällt.

Storfossen und Roadside – der siebente Eisgrad

Ganz hinten im Canyon haben wir bereits ein Ziel, einen vollkommen schrägen Eisfall. Doch zuerst zieht es uns an eine Linie direkt bei unserem Materialdepot. Die meist freistehenden Teile von „Kälteschock“ 80m, WI6 X sind mit allergrößter Vorsicht zu behandeln. Schon beim Abseilen steigt unser Puls an, Benni und ich wissen was uns jetzt erwartet. Ein Eis speiendes, gut 150 Meter hohes Ungeheuer. Tausende Tonnen von Eis hängen äußerst instabil in der Wand. Schon beim Zustieg kann man die Gefahr spüren und auch sehen - es liegen unzählige Blöcke bis zu Autogröße am Einstieg. Wir wählen die am sichersten scheinende Linie und klettern so schnell wie möglich durch das Monster. Der „Storfossen“ WI7- X ist nicht nur im Sommer eine spektakuläre Attraktion. Am nächsten Tag wollen wir etwas entspannen und oberhalb der Strasse einen neuen Spot auschecken. Die Sonne lässt das Eis leuchten, die Bilder werden perfekt – entspannen können wir jedoch nicht. „Roadside“ WI7 fordert uns weit mehr als geplant. An dünnen Glasuren und frei hängenden Zapfen geht es einige Meter überhängend nach oben.

Lyngen magic – Boottrip am Lyngenfjord

Bereits am nächsten Tag erwartet uns ein Abenteuer der anderen Art. Torbjörn macht uns ein kleines Fischerboot mit 50 PS Außenbordmotor bereit und wünscht uns alles Gute. Er meint, wenn der Wind am Nachmittag zulegt, dann hole er uns im Hafen ab. Ein direkter Rückweg wäre dann nicht mehr möglich. Ich drücke den Gashebel ganz nach unten, die Gischt spritzt über Benni hinweg und wir fliegen über den Fjord. Angekommen auf der anderen Seite klettern wir im direkten Sonnenlicht 120 Meter puren Genuss: „Lyngen magic“ WI5. Der Wind bleibt aus, am Rückweg spiegelt sich die tief stehende Sonne in den Wellen. In meinem Körper breitet sich ein Gefühl vollkommener Zufriedenheit aus. Ich bin glücklich und dankbar, dass ich meinen Traum leben kann.

Trailer zum Film: Lyngenalps Norwegen 2010 - Trailer

© 2020 Mag. Albert Leichtfried - Meteorologe - Bergführer - Extremkletterer
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Fritschi Diamir